Meisterschaft zeigt sich nicht allein - bei Weitem nicht allein - darin, die kompliziertesten Techniken zu beherrschen, sondern besonders in einer beispielhaften Lebensführung und darin, andere Menschen zu einem besseren Leben anleiten zu können. Manchmal beinhaltet dies die körperliche Auseinandersetzung, um ein drohendes Unrecht in letzter Sekunde aufzuhalten. Meist geht es jedoch darum, Menschen auf einfache Weise den richtigen Weg zu zeigen.
Die folgende Geschichte erzählt der Aikido-Meister Christopher Curtis* in seinem Buch "Letting Go", das ich derzeit zu übersetzen die Ehre habe.
Einmal kam eine Frau zu Tohei Sensei und bat ihn, mit dem Lehrer ihres Sohnes zu sprechen. Dieser Lehrer hatte die Kinder in der Schule geschlagen. Tohei Sensei antwortete, dass er das gerne tun werde. Als er ihn traf, sagte Tohei Sensei zu dem Lehrer: „Wie ich höre, glauben Sie an den Nutzen körperlicher Strafen“, und der Lehrer antwortete, dass er das in der Tat so sehe und führte aus, dass dies der einzige Weg sei, den Kindern Disziplin beizubringen.
Tohei Sensei erwiderte: „Ich stimme Ihnen zu. Manchmal ist es nötig, Kinder auf diese Art zu bestrafen. Doch tun Sie mir bitte einen Gefallen.“ Der Lehrer antwortete, dass er das gerne tun würde, offensichtlich erleichtert darüber, dass der Sensei seine Überzeugung teilte.
Tohei Sensei sagte zu ihm: „Sie dürfen die Kinder schlagen, so oft Sie es für nötig halten. Versprechen Sie mir nur eines: Schlagen Sie sie auf keinen Fall, solange Sie auch nur den leisesten Hauch von Zorn in sich verspüren. Sie dürfen sie nur bestrafen, wenn Sie frei von Wut und Ärger sind.“ Der Lehrer erklärte sich freudig bereit dazu: „Aber gerne, so werde ich es handhaben.“
Dieser Lehrer hat in seinem ganzen Leben kein Kind mehr geschlagen. Er war nicht in der Lage, einen Schüler zu schlagen, wenn sich kein Zorn in ihm regte. Aber wenn Tohei Sensei so reagiert hätte, wie wir es vielleicht erwarteten, und er den Lehrer verurteilt hätte, „Sie sind ein echtes Schwein, dass Sie diese armen Kinder schlagen und gehören ins Gefängnis“, so hätte sich der Mann nie geändert. Er hätte es nie kapiert. Und das ist der Punkt, um den es mir geht. Wir sollten nie mit dem beginnen, was wir tun wollen oder müssen, sondern mit einer Betrachtung unserer geistigen Verfassung. Dann werden unsere Handlungen für sich selbst sprechen und immer von Gerechtigkeit und Mitgefühl geleitet sein.
Stellen Sie sich die gleiche Ausgangslage in einem amerikanischen Haudrauf-Movie vor. Da schreitet der Held stählernen Blickes über den Schulhof, erwischt den Lehrer inflagranti und zwei Roundhousekicks und einen eingesprungenen Yoko Geri später fliegt der schuftige Erzieher durch das geschlossene Panoramafenster der Aula. Aber wie Curtis Sensei sagt: Der Lehrer wäre vielleicht tot, doch er hätte nichts dabei gelernt.
Die Weisheit der Meister besteht darin, die Welt für alle Menschen zu verbessern, nicht darin, die Bösen zu verprügeln.
*Christopher Curtis: Letting Go. MAKS Publishing: Wailuku/Hawaii 2007. Ab 2014 in deutscher Sprache erhältlich.
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